Rockpalast Archiv

Einige Überlegungen zur medienpsychologischen Wirkung des Rockpalasts

von Dipl.-Psych. Alfred Klösgen, Düren

 

1.Der Rockpalast als Kultursendung

Um über eine Sache etwas psychologisch sagen zu können, muß sie als Gegenstand umrissen, begrenzt und deutlich sein, ansonsten geraten psychologische Aussagen zu einer Abfolge von beliebigen Aussagen. Gegenstand der hier zur Diskussion stehenden Überlegungen ist die Sendung Rockpalast als kulturell determiniertes und kulturell bestimmendes Medium. Damit ist die Annahme verbunden, daß der Rockpalast Teil unserer heutigen Kultur ist, gleichzeitig aber auch Kultivierungsprozesse beeinflußt. Psychologisch wäre es zu kurz gegriffen davon auszugehen, der Rockpalast wäre eine Kultursendung, weil in ihr Rockmusik als Teil unserer Kultur zu sehen ist. Vielmehr steht der Rockpalast in besonders herausgerückter Weise im Schnittpunkt unserer heutigen Kultur und muß, ob er will oder nicht, Probleme und Strömungen der heutigen Kultur berücksichtigen. Von daher ist es notwendig, einen Blick auf die Bedingungen der heutigen Kultur zu werfen.

2. Die heutige Kultur als "Anything Goes"

Die Entwicklung der Kultur in den letzten beiden Jahrzehnten ist davon geprägt, daß sich eindeutige Richtungen und Formen zunehmend auflösten. Am Beispiel der Rock- und Jugendkultur wird dies deutlich: Aus den klar umrissenen Jugendbewegungen der 50er und 60er Jahren mit ihren Rocker-, Mods- und Hippiebewegungen wurde zu Beginn der 70er Jahre eine orientierungslose Jugend, die eben dies als letzte Vereinheitlichungsform zu ihrem Bindemittel machte: Die Punks in ihrer 'No Future' Perspektive. Die Punkbewegung Mitte der 70er war die letzte Identifikationsmöglichkeit von Jugendlichkeit. Die Jugend zu dieser Zeit wurde am Maßstab der Punkbewegung überhaupt erst zu etwas klar Definierbarem: die Jugend war dreckig, hatte grüne Haare im Irokesenschnitt, Sicherheitsnadeln in der Backe, oder eben nicht. Und wenn dem nicht so war, dann waren Jugendliche eben anders, aber: der Maßstab Punk konnte für die Jugendkultur und ihren vereinheitlichenden Kategorisierungen beibehalten werden.

In der Zeit der Punkbewegung konnte sich der Rockpalast als Jugendsendung etablieren. Dabei war die Wirkung inhaltlich zentriert um Rockmusik für Jugendliche. Medienpsychologisch kann festgehalten werden, daß der Rockpalast auf eine Kultur stieß, die begann, sich in viele verschiedenen Formen, Möglichkeiten, Gruppierungen, Haltungen und Idealen aufzuteilen. Der damit verbunden Angst der (Jugend-)Kultur, nicht mehr zu wissen, wie es weitergehen wird, was alles kommen mag etc., setzte der Rockpalast etwas Solides, Dauerhaftes und Kalkulierbares entgegen: Feste Sendezeiten und Veranstaltungsdaten und ein identifizierbares Programm, verwurzelt in der amerikanischen Rockmusik. Damit übernahm der Rockpalast die Funktion als Rettungsinsel in einer zunehmend unsicherer und stürmischer werdenden Brandung. Die Kultur zerfiel in ein Konglomerat verschiedenartigster Grüppchen: Man konnte einer Sekte angehören oder strebsam in Schule und Beruf sein, oder Familie gründen oder alternativ werden oder gar nichts tun oder was auch immer. Und das beste daran war: Man konnte alles zugleich sein und werden. Die Kultur entwickelte sich zu einer Größe, die keine eindeutigen Maßstäbe mehr zur Verfügung stellte, sondern nur noch einen Maßstab kennt: Alles ist erlaubt. Damit ist das konsequenzlose Nebeneinander Existieren von Lebensentwürfen zum Kennzeichen unserer heutigen Kultur geworden, die jedem ihrer Teilnehmer verspricht, alles machen zu können, zu dürfen, aber auch zu müssen. Dieser Entwicklung konnte auch der Rockpalast nicht standhalten: Um 'auf der Höhe der Zeit' zu bleiben, öffnete er sich zu verschiedenen Seiten hin: aus der Orientierung an amerikanischer Rockmusik wurde der Versuch, auch noch anderes unterzubringen, z.B. Reggae (Black Uhuru), Avantgarde (John Cale) oder gar afrikanische Stammesmusik (King Sunny). Ähnlich wie in der Kultur insgesamt verlor der Rockpalast schleichend bis dato unumstößliche und sicher geglaubte Haltepunkte. Deutlichstes 'Symptom' dieser schleichenden Auflösung war 1984 der Wegfall des Frühjahrsterrnins des Festivals in der Essener Grugahalle. (Ausdrücklich sei an dieser Stelle darauf verwiesen, daß es sich hierbei um eine psychologische Sichtweise einer Einheit von Wirkungen handelt, deren Gültigkeit im Erleben unabhängig von rationalen Begründungen - etwa dem Versuch, Bob Dylan für ein Konzert in Essen zu gewinnen - gegeben ist.) Gleichzeitig verlor der Rockpalast psychologisch mehr und mehr seine Aufgabe, nämlich ein ruhender und vereinheitlichender Pol in einer sich beängstigend schnell verwandelnden Kulturlandschaft zu sein. Die Jugend hatte keine Angst mehr vor den Veränderungen ihrer eigenen Kultur, der Rockpalast wurde überflüssig und wirkte geradezu antiquiert.

Läßt sich die heutige Kultur als eine Form des "Anything Goes" beschreiben, dann hat sie eine gewichtiges Problem zu lösen: um nicht völlig zu zerfließen, bedarf es nun wieder einer Vereinheitlichung. War demzufolge die Aufgabe der ersten Rockpalastserie, der Kultur eine Sicherheit und Rückzugsmöglichkeit bei neuen Entwicklungen zu bieten, die offenbar mit großem seelischen Erfolg betrieben wurden, sonst wäre der Rockpalast nicht überflüssig geworden, muß sich der Rockpalast heute einer neuen, ungleich schwierigeren, aber auch sehr wichtigen Aufgabe stellen.

3. Der Rockpalast als Prototyp der Einheit

In einer orientierungslosen und diffusen Kultur muß notwendigerweise eine Gegenbewegung zunehmend an Bedeutung gewinnen, die sich als Zug zur Vereinheitlichung kennzeichnen läßt. Die Vielfalt des "Anything Goes" birgt in sich notwendigerweise die Gefahr, 'verrückt' zu werden und 'durchzudrehen'. Die Kultur braucht Orientierung und Vereinheitlichendes, um nicht auseinanderzufallen. Es ist sicher kein Zufall, daß die zweite Geburt des Rockpalasts zeitlich sehr eng mit dem zur Zeit noch scheiternden Versuch der Herstellung einer deutschen Einheit fällt. Unsere Kultur hat es gleichsam 'verlernt', wie man etwas zusammenbekommt und zusammenhält. In den Zeiten der APO und den Zeiten von Love und Peace ging es darum, festgefahrene kulturelle Einheiten aufzulösen, heute muß es darum gehen, der Auflösung etwas Vereinheitlichendes entgegenzusetzen. Die Kultur sehnt sich geradezu nach halt- und orientierungbietenden Einheiten und findet sie auch: in den extremen politischen und religiösen Organisationen, die uns das Versprechen bieten, das Leben wieder in klar strukturierte Einheiten übergehen zu lassen. Genau an dieser Stelle kommt dem Rockpalast eine wichtige kulturelle Aufgabe zu: Vereinheitlichen, ohne zu vereindeutigen.

Der Rockpalast kann prototypisch, also beispielhaft und vorbildhaft für folgende kulturelle Entwicklungen, das Einheitsproblem aufgreifen und in einer für die Weiterentwicklung der Kultur fruchtbaren Weise zu lösen versuchen. Offensichtlich ringt der Rockpalast genau um diese Lösung. Die 'Schwierigkeiten' der zweiten Rockpalaststaffel Mitte der 90er zeigen das auf. Welche Bands sprechen welche Zuschauer an? Was paßt zusammen? Welche neuen Wege sind gangbar? Wieviel und wie wenig läßt sich in einer Sendung unterbringen? Wie kann Altes und Neues zusammenkommen? etc. Das alles sind Fragen nach dem Funktionieren einer Einheit, die sich als lebbar erweisen muß. Von dieser Aufgabe der Herstellung einer

vielfältigen Einheit her lassen sich konzeptionelle Entscheidungen noch einmal anders als vielleicht üblich einordnen. So ist beispielsweise die Entscheidung, das komplette Konzert einer Band zu senden, im Grunde genommen eine konsequente Einübung in Aushalten von umfassenden Einheiten. An dieser Stelle wird deutlich, welche kulturelle Bedeutung eine solche Entscheidung für das Senden eines kompletten Konzerts hat: Wir müssen uns wieder daran gewöhnen, daß etwas einen Anfang und ein Ende hat, daß man nicht einfach raus- und reinspringen kann, ohne dabei etwas zu verpassen und Zusammenhänge zu verlieren etc. Von da aus erweist sich der Rockpalast als notwendige kulturelle Ergänzung und Alternative zu extremen religiösen und politischen Strömungen.

Die Art und Weise, wie der Rockpalast diese Aufgabe konkret lösen kann, muß notwendigerweise prozeßhaft sein und bleiben. Wenn der Rockpalast in dieser Kultur bewußt wirksam werden möchte, bedarf es der Berücksichtigung der Bedingungen seelischer Einheitsbildungen. Seelische Einheiten und damit auch kulturelle Einheiten müssen immer wieder aufs Neue hergestellt werden. Eine Einheit ist nur tragfähig, wenn sie in Entwicklung ist und bleibt und dabei ausreichend beweglich ist, ohne beliebig zu sein. Der Rockpalast als einheitsbildendes Medium hat somit stets mit Idealen und Verfehlungen, mit Vielfalt und Vereinheitlichungen zu tun. Letztlich bedeutet dies, daß der Weg hin zum und die Suche nach dem 'idealen Rockpalastprogramm' die Triebfeder der Einheitsbildung ist, an der der Zuschauer teilhaben kann. Ein Erreichen des Ideals wäre das Ende der prozeßhaften Einheitsbildung. Warten wir ab, wann der Rockpalast seine Kultur-Aufgabe erfüllt hat.

4. Das Funktionieren einer Einheitsbildung in Vielfalt

Der Rockpalast läßt sich nach dem bisher Gesagten um das kulturell-seelische Problem der Einheitsbildung zentrieren. Dabei muß es ihm, will er seine Funktion in der heutigen Medien und Kulturlandschaft ernst nehmen, zur Aufgabe werden, eine lebendige Vielfalt zu vereinheitlichen. Ausgehend von diesem übergreifenden 'Problem' kann man konkrete Dinge in Hinblick auf das Funktionieren des Rockpalasts untersuchen. Dabei ist es notwendig, das Erleben der Zuschauer als Bewegung zwischen zwei Polen zu rekonstruieren. Diese beiden Pole können sich gegensätzlich gegenüberstehen und eine Einheitsbildung verhindern, d.h. die Zuschauer schalten ab oder gar nicht erst ein, oder aber es gelingt, eine Einheit in Vielfalt zu gestalten, die die beiden Pole umfaßt. Es bedarf einer genaueren Untersuchung, um die beiden Pole konkret benennen zu können, sie werden in etwa jedoch um alt vs. neu, bekannt vs. unbekannt, aufregend vs. langweilig etc. kreisen. Von da aus wären dann auch thematisch inhaltliche Zentrierungen zu betrachten: eine Nacht mit den ersten zehn Rockpalast Sendungen aus den Gründungstagen; eine Nacht in Erinnerung an Rory Gallagher; eine Nacht zentriert um Ritchie Blackmore etc. Man kann vermuten, daß eine solche Themenzentrierung einheitsbildend wirkt. Ist diese Einheit jedoch zu starr, wird der Pol der Vielfalt vernachlässigt. Auch das fährt zur Auflösung der Einheit, weil sie die Vielfalt vermissen läßt.

In diese Richtung müßte man schauen, um den Erfolg einer Sendung (Zunächst einmal jenseits, später sicherlich auch anhand der Einschaltquoten) medienpsychologisch bemessen zu können. (Angesichts der hier angestellten Überlegungen zur kulturbildenden Funktion der Sendung erscheint es völlig unangemessen, die kulturelle Bedeutung des Rockpalasts in Zuschauerzahlen messen zu wollen.) Von besonderer Bedeutung scheint auch das 'Gesicht' des Rockpalasts als einheitsstiftendes Merkmal per se zu sein: Peter Rüchel und Alan Bangs. Auch das hat in der Bewegung zwischen den oben angedeuteten Erlebenspolen sicherlich eine große Bedeutung.

Abschließend seien noch zwei Bemerkungen erlaubt: Konkrete Aussagen, die das hier bereits Benannte weiterfahren und zu handlungsrelevanten Hinweisen in Bezug auf die Produktion einer Sendung fahren könnten, sind nur durch gezielte qualitative Untersuchungen möglich. Eins ist jedoch auch ohne festzuhalten: Die wichtigsten Träger und Multiplikatoren von Kultivierung sind die Jugendlichen. Will der Rockpalast wirksam werden und die Aufgaben einer Einheitsbildung in Vielfalt ernst nehmen, wird er seine stärkste Wirkung bei denjenigen Mitgliedern der Kultur erzielen, die auf der Suche nach 'ihrer Kultur' sind, die die unsrige wird.


 Mit freundlicher Genehmigung von Dipl.-Psych. Alfred Klösgen, Düren


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